27(1) - 2015

Boillat, Alain & Weber Henking, Irene (Hrsg.). (2014). Dubbing. Die Übersetzung im Kino. La traduction audiovisuelle. Marburg: Schüren

Compte rendu par Sylvia Reinart

Der Sammelband von Boillat und Weber Henking befasst sich auf 306 Seiten mit einem Forschungsgebiet, das innerhalb der vergangenen zehn Jahre in der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft von einem Nischen- zu einem weithin sichtbaren Thema avanciert ist, nämlich der audiovisuellen Übersetzung. Er umfasst ein ausgedehnteres Themenspektrum, als es die englische oder deutsche Titelkomponente „Dubbing“ 1 respektive „Übersetzung im Kino“ suggeriert. Zwar liegt der Schwerpunkt der Beiträge tatsächlich auf der Filmsynchronisation; darüber hinaus werden aber auch Artikel zu den konkurrierenden Verfahren des Voice over und der Untertitelung präsentiert. Überdies finden neben der traditionellen Kino-Übersetzung auch die Übersetzung für das Fernsehen sowie japanische Anime-Filme, Video-Spiele und der Spezialfall der Voix over Erwähnung.

Bemerkenswert an dem Werk ist aber nicht so sehr die thematische Breite, die es bietet, sondern seine bewusst interdisziplinäre Ausrichtung. Viele Aspekte des Umgangs mit filmischem Material sind für die Film-/Medienwissenschaft wie die Translationswissenschaft gleichermaßen von Interesse. Das gilt für die zahlreichen Bearbeitungs- und Transformationsprozesse, die ein fremdsprachiger Film beim Export in eine andere Kultur durchläuft, aber auch für die sehr unterschiedlichen Ansätze, die von der Ursprungs- zur zielsprachlichen Fassung führen (Versionenfilme; Untertitelung; Synchronisation; Voice Over; Remake). Dennoch werden die Forschungsergebnisse der jeweils anderen Disziplin von den Translations- respektive Medienwissenschaftlern nur sehr zögerlich zur Kenntnis genommen.

Die insgesamt dreizehn Beiträge in französischer oder deutscher Sprache (zwei davon wurden von Nathalie Mälzer ins Deutsche übersetzt) belegen, dass es sich durchaus lohnt, die Erkenntnisse beider Disziplinen zusammenzuführen. Die Einzelartikel beleuchten nicht allein Filmdialoge und deren Übersetzung, sondern auch die vielfältigen semiologischen Beziehungen, die zwischen Bildgeschehen, Tonkulisse und Sprache im Film bestehen. Gleichzeitig öffnen sie den Blick auf die technischen und pragmatischen Aspekte der Filmübertragung sowie auf die Rahmenbedingungen, unter denen Filmübersetzer agieren. So bezieht der Sammelband seine Originalität vor allem daraus, dass die Auseinandersetzung mit den audiovisuellen Übertragungsverfahren nicht auf den Umgang mit dem Dialogtext beschränkt bleibt, sondern die semiologische Einheit „Film“ als Ganzes betrachtet.

Den Auftakt des Werks bildet ein Artikel von Jean-Franҫois Cornu, der einen historischen Einblick in die ersten Jahre der Synchronisation von Filmen ins Französische gibt. Dabei geht er unter anderem auf die technologischen wie vertriebstechnischen Rahmenbedingungen ein, unter denen die Synchronfassungen der Jahre 1931-1934 entstanden.

Ebenfalls im Zeichen der Filmhistoriographie steht der Beitrag von Audrey Hostettler, die Versionenfilme ins Visier nimmt. Charakteristisch für diese auch als Mehrsprachenversionen bezeichneten Werke ist, dass zusätzlich zur Ausgangsversion eines Filmes fremdsprachige Fassungen, so genannte Sprachversionen, gedreht werden. So entstehen Originale in mehreren Sprachen. Aufgrund des hohen Zeit- und Kostenaufwands, der mit ihrer Erstellung verbunden ist, war den Versionenfilmen nur eine kurze Zeitspanne in der Filmgeschichte beschert. Aktuell bleibt die Auseinandersetzung mit ihnen aber schon deshalb, weil sie die Brüche vermeiden, die sich beim Rückgriff auf das konkurrierende Verfahren der Synchronisation ergeben, beispielsweise wenn zwei offensichtlich deutsche Filmfiguren Englisch sprechen (vgl. S. 50).

Die Problematik der Inkongruenz zwischen Bildinformation und Sprache kommt auch bei Franҫois Albera, Claire Angelini und Martin Barnier zur Sprache, die mit Blick auf ihr Fallbeispiel anmerken, dass deutsche Schauspieler mit der entsprechenden Gestik und Artikulationsmimik deutsche Worte deklamieren, die in der synchronisierten Filmversion dann „mit der französischen Stimme unsichtbarer Schauspieler“ vermittelt werden (S. 67). Überdies erweitern sie die Betrachtung des Filmtransfers um eine soziokulturelle Dimension, indem sie aufzeigen, dass jeder Film bei seiner Vorführung in einem fremden Kulturraum auf andere gesellschaftliche Bedingungen und Wissensvoraussetzungen beim Zuschauer trifft. Der Rezeptionskontext eines Filmes, die politischen Rahmenbedingungen, die kollektiven Einstellungen sowie der Bezug zum (zeitgenössischen) Filmthema bestimmen seine Wirkung maßgeblich mit. Aufgrund dessen gelangt das Autorenkollektiv zu der Feststellung, dass die filmische Adaptation weit mehr darstellt als das Übersetzen von Wörtern der einen Sprache in Wörter der anderen Sprache.

Die Frage, welche Formen diese Filmadaptation für ein fremdes Publikum annehmen kann, steht im Zentrum des Artikels von Jan Henschen, der neben dem Phänomen der Polyglottie, d.h. dem Nebeneinander unterschiedlicher Sprachen im selben Originalfilm, auch die bereits im Artikel von Hofstetter erörterten Mehrsprachenversionen behandelt. Es wird deutlich, dass Versionenfilme die Art und Weise, wie ein Film erzählt wird, in ganz anderer Form beeinflussen konnten als die heute gängigen Übertragungsverfahren, die erst in der Postproduktionsphase ansetzen.

Dass filmische Adaptationen nicht nur Vorteile bieten, sondern auch Probleme aufwerfen können, zeigt Delphine Wehrli in ihrer komparativen Studie auf. Am Beispiel der französischen Übertragung von Viscontis La terra trema (1948) weist sie nach, dass durch die Neuinterpretation der Erzählerstimme, die im Original die in sizilianischem Dialekt vorgebrachten Äußerungen der Protagonisten in die italienische Standardsprache überträgt, die politischen Konnotationen des Films getilgt wurden. Was als Anpassung an den Zeitgeschmack des zielkulturellen Publikums gedacht war, lässt die Übersetzung nach heutigem Dafürhalten als Instrument der Zensur erscheinen.

Sehr deutliche Verschiebungen zwischen Original (Godards À bout de souffle von 1960) und (italienischer) Synchronfassung treten auch bei dem von Loredana Trovato analysierten Filmmaterial auf. Der Eingriff in das Original wird teilweise mit den Mitteln der Sprache wie den Verzicht auf die Dialektwiedergabe, die Abschwächung von Äußerungen mit sexuellen Konnotationen etc. bewältigt. Die intendierte Differenzqualität zur Ausgangsfassung wird aber erst mithilfe des Filmschnitts perfekt. Tatsächlich wurden einige der in der Synchronfassung eliminierten Passagen erst in der 2005 erschienen DVD, die das Original mit Untertiteln präsentiert, wieder in den Film integriert (vgl. S. 152).

Dass neben der gesprochenen auch die geschriebene Sprache im Film einen hohen Stellenwert einnehmen kann, zeigt Franck le Gac am Filmwerk Godards auf. Die Schrifteinblendungen, die der einflussreiche französische Regisseur in seinen Werken verwendet, können als künstlerisches Mittel sui generis gelten, was die Bezeichnung Untertitel – unabhängig von der Positionierung der Texte – deplatziert wirken lässt. Es erweist sich, dass die Beziehung, in der Sprache (als Ton oder Text) und Bild zueinander stehen, so vielschichtig wie unkonventionell ist. Godards „Titel“ gehorchen anderen Regeln als interlinguale Untertitel: Sie greifen das (beispielsweise in einem Dialekt oder in einer Fremdsprache) Gesagte nicht notwendig auf; fehlen teilweise dort, wo man sie erwarten würde und sind auch gestaltungstechnisch „auffällig“ in dem Sinne, dass sie ungewohnte Schrifttypen oder -größen verwenden, farbig statt schwarz-weiß gestaltet sind etc. Angesichts der hierin zutage tretenden Autonomie des Textes gegenüber Ton und Bild (vgl. S. 176), drängt sich die – von Le Gac nicht thematisierte – Frage auf, ob die für interlinguale Untertitel geltende Maxime der Unauffälligkeit nicht ebenfalls dringend revidiert werden müsste – beispielsweise, um künstlerisch-ästhetischen Anforderungen gerecht zu werden.

Mit der Übertragung literarischer Vorlagen in den Filmen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet befasst sich Benoît Turquety. Übersetzung spielt sich dabei im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne ab, denn neben dem sprachlichen ist auch ein medialer Transfer involviert. Es zeigt sich, dass die Filmemacher eine unbedingte Werktreue der Filmtexte zum Original anstrebten und der unvermeidlichen Trennung von Sprecher/Körper und Sprache, wie sie mit jeder Synchronisationsleistung einhergeht, äußerst skeptisch gegenüberstanden. Vor allem Straub lehnte dieses Übertragungsverfahren kategorisch ab: „il doppiaggio è un assassinio“ (S. 184). Mit der von ihm favorisierten und von Danièle Huillet selbst erstellen Untertitelung tat sich das Publikum indessen schwer, denn sie widersprach seiner Erwartungshaltung. Insbesondere die bewusst gesetzten „Lücken“ in der Untertitelung trafen auf Ablehnung. Mit dem stellenweisen Verzicht auf Untertitel hatte Huillet aber gerade der Differenzqualität bei der Rezeption von gesprochenem und geschriebenem Wort Rechnung tragen und einem „Zuviel“ an graphischer Information vorbeugen wollen.

Die Trennung von Körper und Sprache, wie sie Jean-Marie Straub beanstandet, entsteht indessen nicht nur bei der Synchronisation für eine fremde Sprache. Sie ermöglicht vielmehr erst das Entstehen der japanischen Anime-Filme, die im Zentrum von David Javets Beitrag stehen. Javet zeigt auf, dass die synthetische Generierung dieser Produkte und die Digitalisierung nicht zuletzt auch die Kommerzialisierung von Filmen verändert haben: Dieselben Figuren tauchen in unterschiedlichen Medien auf, angefangen beim Kinofilm über die Fernsehserie bis hin zum Videospiel. In einem ausgeklügelten marketing mix werden sie zusammen mit ihren Synchronsprechern, den seiyu, als Identifiationsfiguren aufgebaut. In Kombination mit der tiefen Verankerung der Gesprochensprachlichkeit in den Traditionen des Landes führt diese Entwicklung dazu, dass die Synchronsprecher, die in anderen Nationen oft unbekannte Schauspieler bleiben, in Japan aus dem Schatten ihrer Filmfiguren heraustreten und selbst Kultstatus erwerben.

Mit dem Phänomen, dass die Synchronisation großes Ansehen beim breiten Publikum genießt, beim cinephilen Publikum dagegen oftmals auf Ablehnung stößt, setzt sich Nathalie Mälzer auseinander. Sie lässt die wichtigsten Argumente, die gegenüber diesem Übertragungsverfahren geltend gemacht werden, Revue passieren und stellt fest, dass sie einer kritischen Überprüfung kaum standhalten. So erscheint es wenig sinnvoll, synchronisierte Filme unter den Generalverdacht der Manipulation zu stellen – zumal die Nachprüfbarkeit der Übereinstimmung mit dem Original beim Medium DVD durchaus gegeben ist. Überdies ist die Einheit von Körperbild und Stimme, die die Synchronisation vermeintlich aufhebt, schon im Original insofern eine Illusion, als viele Filmpassagen auch innersprachlich nachsynchronisiert werden (und bei synthetisch generierten Bildern die Einheit von Körper und Stimme ohnehin nicht gegeben ist). Selbst die „ausgetauschte Stimme“ muss sich nicht notwendig als Handikap erweisen. Es kann sogar vorkommen, dass die Synchronstimme „als passender zur Rolle empfunden wird als die Originalstimme“ (S. 235). Die Originalstimme ist also zumindest bei der „fiktivisierenden Lektüre“ nicht per se ein Qualitätskriterium. Das Interesse des Zuschauers an ihr erscheint Mälzer dennoch verständlich. Sie betont allerdings, dass dieses Interesse im Grunde weniger auf die Narrativik des Filmgeschehens gerichtet ist, als auf die „dokumentarische Lektüre“ (S. 238).

Alain Boillat stellt in seinem Artikel zwei verwandte, aber nicht deckungsgleiche Verfahren in den Vordergrund, nämlich voice over und voix over. Das voice over stellt neben Synchronisation und Untertitelung das dritte Verfahren zur Übertragung fremdsprachiger Filme für ein zielsprachliches Publikum dar, wohingegen die voix over dadurch gekennzeichnet ist, dass der Körper des Redners nicht im Bild erscheint. Während die voix over zu den narrativen Verfahren eines fiktionalen Films zählt, ist das voice over ein Übertragungsverfahren, das im deutschsprachigen Raum vornehmlich bei Dokumentarfilmen Anwendung findet, wo es als Authentizitätsmarker dient. Dass die Grenzziehung zwischen beiden Verfahren nicht nur aufgrund der Benennungsähnlichkeit zuweilen schwierig ist, zeigt Boillat anhand von Beispielen aus den Filmen von Renais und Truffaut auf.

Alexander Künzli präsentiert eine empirische Studie zur Untertitelungspraxis im deutschsprachigen Raum, die Untertitel für Hörende wie für Hörgeschädigte einbezieht. Anders als die übrigen Beiträger geht er nicht ergebnis-, sondern prozessorientiert vor, rückt also nicht das Translat, sondern dessen Entstehungsbedingungen und damit auch die Untertitel-Übersetzer selbst in den Vordergrund. Kurioserweise werden diese bislang „von der audiovisuellen Übersetzungsforschung weitgehend ausgeblendet“ (S. 282). In Anlehnung an Prunҫs Begriff der Translationskultur geht er der Frage nach, wie die reale „Untertitelungskultur“ im deutschsprachigen Raum aussieht, wie also zum Beispiel das erzielte Honorar, der eigene Status und die Arbeitsbedingungen von den Untertitel-Erstellern selbst wahrgenommen werden. Die erhobenen Daten setzt Künzli mit den Variablen Tätigkeitsland (Schweiz oder Deutschland), Untertitelungsform (inter- oder intralingual) und Geschlecht in Beziehung. Die Auswertung lässt erkennen, dass noch einiges an Verbesserungsbedarf besteht, vor allem, was die Transparenz der Prozesse, den Handlungsspielraum der Untertitler, ihre Sichtbarkeit und ihre Einflussmöglichkeiten bei der Kooperation mit anderen Akteuren anbetrifft.

In dem abschließenden, von Pauline Bruttin transkribierten Beitrag, kommen die Teilnehmer an einem runden Tisch und damit sehr unterschiedliche Repräsentanten der Vertriebskette von Kinofilmen zu Wort. Der Übersetzer und Synchronisations-/Untertitelungswissenschaftler Jean-Franҫois Cornu, der Vertreter einer Filmvertriebs- und Produktionsgesellschaft Cédric Bourquard, der Gründer einer der größten Synchronanstalten Frankreichs Hervé Icovic sowie der Übersetzungsdidaktiker und -forscher Stefano Leoncini geben aus ihrer je eigenen Perspektive Einblicke in den Synchronisations- und Untertitelungsmarkt.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Sammelband ein vielschichtiges Panorama der komplexen Materie „audiovisuelle Übersetzung“ zeichnet und detailreiche Einsichten in die Probleme, die mit der Übertragung fremdsprachiger Filme in einen anderen Sprach- und Kulturraum verbunden sind, bietet. Gemäß den Usancen des relativ jungen Forschungsfelds werden dabei vornehmlich anspruchsvolle Filme angesehener Cineasten besprochen und Fallstudien zu zahlreichen Einzelaspekten präsentiert. Wie die Rückseite des Buchdeckels verspricht, geben die Studien jedoch „über die einzelnen Fallanalysen hinaus auch einen theoretischen Rahmen zur Erforschung der Beziehungen zwischen Bild und Text, Körper und Stimme in den Medien, sowie einen Einblick in die Praxis des audiovisuellen Übersetzens“.

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1. Den sehr weiten Wortsinn, den sie dem Ausdruck dubbing geben, erklären die Herausgeber auf Seite 10. [zurück]

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27 avril 2015
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