27(1) - 2015

Griebel, Cornelia (2013). Rechtsübersetzung und Rechtswissen. Kognitionstranslatologische Überlegungen und empirische Untersuchung des Übersetzungsprozesses (Doktorarbeit). Berlin: Frank & Timme

Compte rendu par Eva Wiesmann

Die Autorin der hier zu rezensierenden Publikation ist Diplom-Übersetzerin für Französisch und Italienisch und unterrichtet am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK) der Universität Mainz in Germersheim sowohl im Bachelor- als auch im Masterstudiengang das Fach Rechtsübersetzung aus dem Französischen ins Deutsche. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass die Studierenden bei der Rechtsübersetzung bereits in der Rezeptionsphase scheitern, und der Feststellung, dass die übersetzungsorientierte Rezeption von Rechtstexten in der Translations- bzw. Translationsprozesswissenschaft bisher noch nicht konsequent untersucht wurde, stellt Cornelia Griebel in ihrer auf kognitions- und rechtslinguistische Erkenntnisse gestützten empirischen Untersuchung des Übersetzungsprozesses „die kognitiven Prozesse bei der Verarbeitung rechtlichen, rechtssprachlichen und rechtstranslatorischen Wissens während der Rezeption des zu übersetzenden juristischen Textes in den Fokus“ (S. 24) und versucht, daraus „konkret umsetzbare didaktische Konsequenzen im Sinne einer Verbesserung der Ausbildung professioneller Rechtsübersetzerinnen und Rechtsübersetzer abzuleiten“ (S. 26). Die interdisziplinär angelegte Arbeit, die im Jahr 2013 am FTSK als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie angenommen wurde, gliedert sich in drei große, von einer Einleitung und Schlussbetrachtungen umrahmte Kapitel und umfasst neben einem Literaturverzeichnis einen auf CD verfügbaren Anhang.

Das erste große Kapitel (Kap. 2) setzt sich mit den Modellen und den Erkenntnissen der kognitiven Linguistik zur Wort- und Textverarbeitung auseinander und fragt nach deren Anwendbarkeit auf bzw. deren potentiellem Nutzen für das übersetzungsbezogene, transferorientierte Verstehen von Rechtstermini und Rechtstexten durch mit der Rechtsübersetzung konfrontierte Studierende im Ausbildungsgang Translation, die aus einer Fremdsprache (Französisch) in ihre Muttersprache (Deutsch) übersetzen und in dem Zusammenhang zwei Rechtskulturen (die französische und die deutsche) in Relation setzen sollen. Da sich die einschlägigen kognitionslinguistischen Forschungen (insbesondere Levelt, 1998; Paivio, 2007; Kroll & Stewart, 1994 und Rickheit et al., 2002) nicht mit der Rezeption fremdsprachlicher Wörter und Texte zum Zweck der Übersetzung in die Muttersprache befassen und sich das Recht, die Rechtssprache und das bei der Wort- und Textverarbeitung zum Tragen kommende rechtliche Wissen durch eine besondere Komplexität auszeichnen, werden die kognitionslinguistischen Modelle einer Anpassung unterzogen und zu einem Verarbeitungsmodell zusammengeführt, das dann auf der Grundlage der Ausführungen zu Rechtssprache und Rechtsübersetzung im anschließenden Kap. 3 eine Präzisierung erfährt. Die Beobachtung der oberflächenverhafteten studentischen Übersetzungen aus dem Unterricht wird dabei durch zwei aufgrund kognitionslinguistischer Ergebnisse formulierte Annahmen gestützt: Einerseits seien es die – v.a. in der L2 – fehlenden Verbindungen zwischen Rechtstermini und ihnen entsprechenden sowie damit vernetzten Konzepten, zugehörigen enzyklopädischen Wissenseinheiten und ggf. vorhandenen bildhaften Repräsentationen, die zu einer „Übersetzung auf lexikalischer Ebene, ohne Einbezug des konzeptuellen Systems und mit entsprechendem Fehlerrisiko“ (S. 87) führten. Andererseits behindere mangelndes Vorwissen im Vorfeld des eigentlichen Rezeptionsprozesses die Bildung von Präsuppositionen und folglich die Aktivierung mentaler, ggf. holistischer Modelle und den Aufbau eines ersten – bei der durch Textschemata erleichterten, Inferenzen implizierenden Rezeption dann durch die Textinformation integrierten – Text-Situationsmodells und das wiederum führe zu einem stärkeren Festhalten an der Textoberfläche, weshalb der Übersetzer „bewusst gesteuerte, zeitaufwändige und Ressourcen bindende Prozesse initialisieren“ müsse, die vor allem darin bestünden, „Recherchen außerhalb des Textes […] anzustellen“ (S. 118).

Erklärtes Ziel von Kap. 3 ist „ein möglichst umfassendes kognitionstranslatologisches Modell des Rezeptionsprozesses bei der Übersetzung von Rechtstexten, um auf dieser Basis Defekte identifizieren und empirisch untersuchen zu können.“ (S. 198) Dazu arbeitet Griebel zunächst gestützt auf einschlägige Publikationen treffend die Besonderheiten der Rechtssprache als Fachsprache heraus. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie dabei aus kognitionslinguistischer Perspektive dem von Busse (1992) geprägten Begriff des juristischen Wissensrahmens, der die Institutionalität und die Intertextualität als den kennzeichnenden Merkmalen der Rechtssprache miteinander verknüpft. Darunter sind nach Busse Wissenskomplexe zu verstehen, die aus der eine Rechtsauslegung implizierenden Rechtspraxis entstehen und deren organisierende Zentren die Auslegungstexte (Kommentartexte und obergerichtliche Auslegungstexte) sind, die als Subtexte von Normtexten die operationale Bedeutung hervorbringen. Sie sind durch Dynamik gekennzeichnet, umspannen v.a. die Rechtsinstitute und konstituieren sich durch die Anwendung von Recht auf abstrahierend versprachlichte Lebenswirklichkeiten über die von den Juristen in der Ausbildung erlernte Herstellung von intertextuellen Bezügen, insbesondere zwischen Normtexten und Kommentaren, wobei die Normtexte selbst über die Verweistechnik des Gesetzgebers bereits intertextuelle Relationen implizieren. Da der nicht juristisch geschulte Rechtsübersetzer, so Griebel, weder das vom Juristen im Studium erworbene und im Beruf erweiterte prozedurale noch das sich ständig verändernde deklarative Wissen des Juristen haben könne, stellt sie sich die Frage, wie sich die kognitiven Prozesse des Rechtsübersetzers bei der Rezeption des ausgangssprachlichen Textes darstellen lassen, welche Prozesse unverzichtbare Voraussetzung für das Rechtstextverständnis und den anschließenden Transfer sind und wo beim Verstehensprozess des Rechtsübersetzungsanfängers Defekte vermutet werden müssen. Ihr kognitionstranslatologisches Modell stellt die idealtypische, bei Anfängern aber nicht störungsfrei ablaufende Rezeption von Rechtstexten einer Rechtsordnung durch Rechtsübersetzer zum Zweck der Übersetzung der betreffenden Texte für Empfänger aus einer anderen Rechtsordnung dar und dient als Grundlage für die empirische Untersuchung in Kap. 4. Die Störfaktoren macht Griebel dabei in verschiedenen Problemfeldern aus: Insbesondere muss rechtliches Wissen in Bezug auf zwei rechtsvergleichend zueinander in Bezug zu setzende Rechtsordnungen vorhanden sein. Rechtsbegriffe müssen von gemeinsprachlichen Wörtern unterschieden und konzeptualisiert werden können, wobei juristische Wissensrahmen als enzyklopädische Wissenseinheiten die Voraussetzung für ein umfassendes Begriffsverständnis sind und ihrerseits ein Bewusstsein für die Bedeutung der Institutionalität und der Intertextualität voraussetzen. Bei Rechtstexten müssen die Konventionen der Vertextung der betreffenden Textsorten bekannt sein.

Kap. 4 ist der empirischen Untersuchung der kognitiven Prozesse bei der Übersetzung eines französischen Lehrbuchtextes zum pourvoi en cassation ins Deutsche durch 14 Studierende des Bachelor- und vier Studierende des Master- bzw. Diplomstudiengangs am FTSK in Germersheim gewidmet. Die Untersuchung wird von der Hypothese geleitet, dass 1. das Kernproblem in der Textrezeption liege, da das benötigte deklarative Wissen nicht in für die Bildung von Präsuppositionen und Inferenzen ausreichendem Maße vorhanden sei, dass 2. die Verarbeitung des Textes v.a. durch die Komplexität von Syntax und Textstruktur sowie durch die implizite Intertextualität beeinträchtigt werde, dass 3. ein adäquates, den Erwerb prozeduralen Wissens steuerndes Problembewusstsein fehle und dass 4. vom Bachelor zum Master bzw. Diplom zwar ein Kompetenzzuwachs bei der Rechtsübersetzung zu verzeichnen sei, dass dieser aber professionellen Anforderungen nicht genüge. Als Versuchsinstrumentarium werden nach der kritischen Auseinandersetzung mit den in der Translationsprozessforschung eingesetzten Instrumenten Aufzeichnungen mit der Schreib Logging-Software Translog, retrospektive und versuchsvorbereitende Fragebögen sowie Recherche- und Unterrichtsprotokolle herangezogen. Bei der Auswertung spielen Profildaten zu den Probanden und Metadaten zu ihrem Internet-Rechercheverhalten sowie qualitative Daten (Angabe von Problemstellen und Selbsteinschätzung zu ihren Lösungen, zur verfügbaren Zeit und zum Schwierigkeitsgrad) sowie quantitative Daten (insbesondere Vorlauf- und Orientierungspausen, Revisionen und Produktdaten) eine Rolle, die zueinander in Relation gesetzt werden.

In den Schlussbetrachtungen werden die Ergebnisse der Datenauswertung zu den in Kap. 4 formulierten Hypothesen in Bezug gesetzt, die prozesswissenschaftlichen Verfahren und die Untersuchungsparameter einer kritischen Beurteilung unterzogen und die didaktischen Konsequenzen formuliert. Von den vier Hypothesen werde nur die erste in vollem Umfang durch die empirische Untersuchung bestätigt: Deklaratives rechtlich-sprachliches Wissen ist nicht ausreichend vorhanden bzw. kann nicht auf die neue Textsituation übertragen werden. Mangelhafte Übersetzungsprodukte sind primär auf Rezeptionsprobleme zurückzuführen, die ihrerseits wieder Produktionsprobleme bedingen. Entsprechend hält es Griebel in didaktischer Hinsicht für erforderlich, „den Schwerpunkt bei Rechtsübersetzern verstärkt auf die Vermittlung rechtssystemübergreifender Inhalte und den Rechtsvergleich zu legen“ (S. 402), wozu es einer entsprechenden Neuausrichtung des Translationscurriculums bedürfte (sprach und rechtskulturspezifische Ergänzung des Sachfachs Recht und Vermittlung von Recherchekompetenz im Bachelor, Vertiefung des juristischen Fachwissens und der rechtsvergleichenden Kenntnisse, stärkere Verzahnung von Übersetzungsübungen und Sachfächern im Master). Dass es – entgegen der zweiten Hypothese – offensichtlich nicht so sehr die Syntax und die Textstruktur sind, die die Rezeption beeinträchtigen, sondern lexikalisch-begriffliche Probleme, liege möglicherweise an der geringen syntaktischen und textstrukturellen Komplexität des zu übersetzenden Textes, dessen Auswahl, wie angemerkt werden muss, – auch unter dem Gesichtspunkt der berufspraktischen Relevanz – möglicherweise etwas besser hätte überdacht werden sollen. Auch die dritte Hypothese habe sich nur teilweise bestätigt: Während das erforderliche prozedurale Wissen bei den Probanden zwar offensichtlich nicht vorhanden war, zeigten sie ein unerwartet hohes Problembewusstsein. In Bezug auf den nach der vierten Hypothese vermuteten Kompetenzzuwachs war dagegen eine geringere Progression als von Griebel angenommen zu verzeichnen, allerdings war das Problembewusstsein bei den Fortgeschrittenen höher als bei den Anfängern. Bei der Beurteilung der prozesswissenschaftlichen Verfahren und der Untersuchungsparameter sieht Griebel den Nutzen ihrer Erkenntnisse „vor allem darin, dass sie als Hypothesen und als Grundlage für weitere Versuche mit ergänzenden bzw. feinmaschigeren Verfahren und größeren Populationen dienen können, um so dem komplexen Prozess des Übersetzens zunehmend auf die Spur zu kommen.“ (S. 397) Gleichzeitig räumt sie ein: „Valide Erkenntnisse über die vielen im Gedächtnis ablaufenden Einzelprozesse können translationsprozesswissenschaftliche Daten noch nicht liefern und müssen deduktiv-hypothetisch aus den Prozessdaten erschlossen werden.“ (S. 395-396) Angesichts der Komplexität des Übersetzungsprozesses könnte es daher aus ihrer Sicht sinnvoll sein, Einzelprozesse mit den Instrumenten der Kognitionslinguistik zu beleuchten. Weiterführend würde ich mir gerade im Hinblick auf die in Kap. 3 gestellte Frage, welche Prozesse unverzichtbare Voraussetzung für das Rechtstextverständnis und den anschließenden Transfer sind, interessante Ergebnisse aus einer kognitionstranslatologischen Untersuchung versprechen, die kompetente, langjährig mit der Rechtsübersetzung befasste Berufsübersetzerinnen und -übersetzer einbezieht und zwar, um besseren Aufschluss über die Bedeutung der juristischen Wissensrahmen zu bekommen, solche ohne und solche mit juristischer Ausbildung. Dies könnte auch mehr Licht auf die Frage werfen, bis zu welchem Grad Rechtsübersetzer das Wissen von Juristen haben müssen. Insgesamt betrachtet handelt es sich bei der Publikation von Griebel aber – abgesehen von ein paar formalen Mängeln (im Wesentlichen Tipp- und Worttrennungsfehler) – um eine gelungene Arbeit, die einem schwierigen Thema gerecht wird und interessante, didaktisch aufschlussreiche Erkenntnisse bringt.

Bibliographie

Busse, D. (1992). Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen: Niemeyer.

Kroll, J. F. & Stewart, E. (1994). Category interference in translation and picture naming: Evidence for asymmetric connections between bilingual memory representations. Journal of Memory and Language, 33, 149-174.

Levelt, W. J. M. (1998). Speaking. From intention to articulation (5. Auflage). Cambridge, MA: MIT Press.

Paivio, A. (2007). Mind and its evolution. A dual coding theoretical approach. Mahwah, NJ: Erlbaum.

Rickheit, G., Sichelschmidt, L. & Strohner, H. (2002). Psycholinguistik. Die Wissenschaft vom sprachlichen Verhalten und Erleben. Tübingen: Stauffenburg.

27 avril 2015
  27(1) - 2015