32(2) - 2020

Malmkjær, K., Şerban, A. & Louwagie, F. (Eds.). (2018). Key cultural texts in translation. John Benjamins

Compte rendu par Lavinia Heller

 

Der Sammelband Key Cultural Texts in Translation präsentiert sich als das Ergebnis einer 2012 an der Universität Leicester initiierten Debatte, die sich über mehrere Jahre unter der Mitwirkung wechselnder AkteurInnen weiterentwickelt hat. Im Zentrum dieser Debatte standen so genannte Key Cultural Texts (KCT), also Texte, die eine tragende Rolle spielen bei der Entwicklung kultureller Identitäten und ihrer Selbst- und Fremddarstellung. Die Annahme ist, dass sich kulturelle Identitäten an AkteurInnen, sozialen Gruppen und literarischen Figuren bzw. an deren Ansichten und Überzeugungen, an deren (sprachlichem) Verhalten und Schaffen, an Orten, Objekten etc. beobachten und rekonstruieren lassen. Interessant sind solche Texte für die translationswissenschaftliche Forschung hinsichtlich folgender, im hier besprochenen Sammelband aufgegriffenen Fragen: Fungieren diese Texte in ihrer Übersetzung als Schlüsseltexte für das Verständnis einer bestimmten (Ausgangs-)Kultur? Lässt der spezifische translatorische Umgang mit einem KCT Rückschlüsse zu hinsichtlich der dominierenden oder widerstreitenden Diskurse im neuen Rezeptionssystem oder hinsichtlich der kulturellen Identität bzw. der biographischen Situation der involvierten TranslatorInnen? Welche für die Klassifizierung des spezifischen Textes als KCT konstitutiven Elemente können überhaupt als übersetzungsrelevant und/oder als (un-)übersetzbar betrachtet werden und unter welchen Umständen ist dies der Fall? Entfaltet der Text in seiner Übersetzung eine ähnlich starke Wirkkraft im Zielsystem wie im Ausgangssystem und woran lässt sich dies beobachten? Welche Verschiebungen finden in der zielsystemischen Rezeption hinsichtlich ihrer kulturdarstellenden oder -stiftenden Funktion statt und weshalb? Das Anliegen dieses Bandes ist es mithin, „to highlight the essentially contested nature of certain concepts across cultures, and the types of [translational – L. H.] adjustment this may (or may not) engender” (S. 1). Somit wird in dieser Publikation ein Problembewusstsein tradiert, das die Emanzipation der Translationswissenschaft von ihren Mutterdisziplinen, der Literaturwissenschaft und der Linguistik, und von einem präskriptiven Reflexionsstil befördert hatte: die Einsicht nämlich, dass der Beginn und das Ende des Translationsprozesses nicht mit dem Anfangs- und Endpunkt des Translationsakts, d. h. dem konkreten Vollzug der Übertragung eines Textes in eine andere Sprache, zusammenfallen. Der Translationsprozess wächst stets über den Translationsakt hinaus und ist in komplexe sozio-kulturelle Strukturen und eine Vielzahl kultureller Praktiken verwoben. Daher können aus einem Ausgangstext-Zieltext-Vergleich weder erschöpfende Antworten darüber entwickelt werden, weshalb ein Text bestimmte sozio-kulturelle Effekte hatte oder weshalb die erwartete bzw. erhoffte Resonanz ausgeblieben ist, noch darüber, weshalb diese oder jene Translationsstrategie verfolgt wurde. Die Ergebnisse des Textvergleichs sind selbst erklärungsbedürftig und müssen ergänzt werden durch hinreichend komplexe Kontextanalysen, die neben dem Ausgangssystem vor allem auch das Translation initiierende System bzw. die Zielkultur betreffen. In diesem Sinne ist die Widmung des Bandes an Gideon Toury (1942-2017), einem der bedeutendsten Theoretiker einer zielsystemischen deskriptiv-analytischen Übersetzungsforschung, auch konzeptionell nachvollziehbar und nicht nur als posthume Ehrung zu verstehen.

Die beitragenden AutorInnen schreiben aus sprachlich und (wissenschafts-)kulturell unterschiedlichen Systemen heraus und diskutieren das Thema der Key Cultural Texts in Translation mit Bezug auf ebenso unterschiedliche Sprach- und Kulturräume, Texte, Konzepte, Symbole und Zeichensysteme. Der Band ist somit hinsichtlich des Anschauungsmaterials sehr vielseitig, es kommen sowohl künstlerische, philosophische, politische, religiöse Texte als auch Tanzchoreographien in den Blick. Die verschiedenen Fallstudien, die in ihrer Qualität stark divergieren, sind auf sechs Sektionen verteilt: Teil I Gender and identity, Teil II Texts and politics, Teil III Texts and places, Teil IV Occident and Orient, Teil V Translating Philosophy, Teil VI Text types. Allerdings ist die Einteilung nicht sehr überzeugend, denn die meisten Texte hätten genauso gut einer anderen Sektion zugeteilt werden können. Tatsächlich äußern die Herausgeberinnen auch ihr Unbehagen darüber (S. 5), offensichtlich aber ohne sich über die negativen Auswirkungen für die Lektüre im Klaren zu sein. Diese liegen darin begründet, dass die Sektionstitel in der Regel eine informative Funktion für die LeserInnen haben, sich hier aber als dysfunktional erweisen, denn sie suggerieren, dass die im Titel enthaltenen Schlagworte ausschließlich oder zumindest vornehmlich die darunter aufgeführten Texte betreffen. Dabei können bestimmte Schlagworte, wie etwa „identity“, „politics“, „text and places“, „occident“ und „text types“ nahezu allen in der Publikation enthaltenen Beiträgen vollumfänglich zugeordnet werden. Eine bessere konzeptionelle Verklammerung der Texte über eine ausführlichere Einleitung, über einen anderen Aufbau oder über von den HerausgeberInnen verfasste Zwischenkapitel wäre der Qualität des Buches zuträglich gewesen und hätte die schwächeren Aufsätze, die z. B. kaum über die Diskussion translatorischer Schwierigkeiten mit kulturspezifischen Elementen hinauskommen, weniger aus dem Rahmen fallen lassen. Auch die Problematik, dass nicht alle AutorInnen deutlich machen, wie sie mit der Kategorie des KCT umgehen bzw. an welchen Kriterien sie sich bei der entsprechenden Kategorisierung ihres Materials orientiert haben, hätte über eine explizitere Verklammerung durch die Herausgeberinnen ausgeglichen werden können, zumal in der Einleitung annonciert wird, dass in den mehrjährigen Diskussionen „the notion of a Key Cultural Text became clearer“ (S. 2).

Zu den Höhepunkten des Sammelbandes gehören zweifelsohne die Beiträge von Stefan Baumgarten, David Charlston, Jinsil Choi, Marta Crickmar, Hanting Pan, Helen Rawlings, Turo Rautaoja und Stella Sandford. Diese Studien sind nicht nur hinsichtlich ihres spezifischen Anschauungsmaterials besonders interessant für die translationswissenschaftliche Diskussion von KCT. Sie erbringen darüber hinaus innovative Perspektivierungen für die zielsystemische, rezeptions- und wirkungsbezogene Translationsforschung, ohne jedoch den Bezug zu den konkreten Texten, von denen die in Diskussion stehende Wirkkraft ausgeht, preiszugeben oder die sprachliche Ebene des Translationsgeschehens aus den Augen zu verlieren, wie dies häufig in kulturwissenschaftlichen Übersetzungsdiskursen der Fall ist. Diese profunden Analysen geben zum einen Einblick in die Komplexität der Translationsprozesse, die nie geradlinig und eindimensional verlaufen, sondern stets auf unterschiedliche Dimensionen einwirken (etwa auf die Ebene der Sprache(n), des politischen, philosophischen, ästhetischen Diskurses, auf die Ebene kultureller Praktiken oder auf die Ebene sozio-kultureller Strukturen), zum anderen richten sie das Augenmerk auf die Aussagekraft und den Informationsreichtum von Translaten. Sie zeigen, dass Translate samt ihren paratextuellen Elementen und den sie flankierenden translationskritischen Debatten nicht nur Auskunft über einen Ausgangstext oder eine Ausgangskultur und ihre spezifischen identitätsstiftenden Praktiken und Diskurse geben, sondern auch über die übersetzenden AkteurInnen, über die Appropriationsprozesse sozio-kultureller Systeme, über ihre kulturellen Selbstbeschreibungen und Selbstvergewisserungen und die darin implizierten Negationen, aber auch über die innerkulturellen diskursiven Kämpfe hinsichtlich der Definitionsmacht kollektiver kultureller Identitäten.

Der Band Key Cultural Texts in Translation versammelt wichtige Beiträge zur kulturwissenschaftlich orientierten Translationswissenschaft und bietet interessante Anknüpfungspunkte für andere Fachdiskurse, allen voran für die Geschichtswissenschaften und die Gender Studies, für Literaturwissenschaft und die Philosophie. Dass der Band insgesamt die Möglichkeiten, die das Thema der Key Cultural Texts in Translation bietet, nicht voll ausschöpft bzw. in Teilen hinter seinem Anliegen zurückbleibt, kann und soll in einer Rezension allerdings auch nicht unterschlagen werden.

 

DOI 10.17462/para.2020.02.10

18 octobre 2020
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