26 - 2014

Enderle-Ristori, Michaela (Hrsg.). (2012). Traduire l’exil/Das Exil übersetzen. Textes, identités et histoire dans l’espace franco-allemand (1933-1945). Tours: Presses Universitaires François-Rabelais

Compte rendu par Wolfang Pöckl

Dieser in der Reihe Traductions dans l’Histoire erschienene Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im November 2006 an der Universität Tours stattgefunden hat. Die Beiträge stammen von WissenschaftlerInnen aus Frankreich, Deutschland, Österreich und Dänemark. Wie schon aus dem Titel der Publikation abzuleiten ist, sind sowohl französisch als auch deutsch geschriebene Artikel enthalten, die von der Herausgeberin in drei Sektionen gruppiert wurden. Die VerfasserInnen haben sich durchweg bemüht, die Beitragstitel sehr explizit zu gestalten. Darüber hinaus wird jedoch jeder Aufsatz noch von drei Abstracts (in Englisch, Französisch und Deutsch) begleitet, so dass man gut vorbereitet in die Lektüre jedes einzelnen Texts einsteigen kann.

Die Herausgeberin holt im Vorwort L’exil, cet espace-temps de la traduction (S. 9-19) historisch weit aus, erinnert an den Ursprung des Konzepts in der griechischen Antike, versucht sich an einer typologischen Skizze des Exils und klinkt sich unter Berufung auf die etablierten Autoritäten Edward Saïd und Homi Bhabha in die postkoloniale Diskussion ein. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass im Kontext der Cultural Studies das Konzept ‚Übersetzung‘ eine deutliche Ausweitung erfahren hat. Allerdings ist es so, dass die AutorInnen der Beiträge von dieser – aus Sicht der Translationswissenschaft übrigens recht problematischen – Metaphorisierung und Vernebelung des für die Disziplin konstitutiven Begriffs kaum Gebrauch machen, im Gegenteil: Geradezu beschwörend betonen z.B. die Übersetzerin Hélène Roussel und der Kulturwissenschaftler Klaus Schulte (zu ihrem Beitrag s.u.), wie abwegig es sei, der im Zuge des Cultural Turn aufgekommenen These zu folgen „que tout texte est en fin de compte ‚traduction‘, et que toute ,traduction‘ est en fin de compte un texte autonome“ (S. 82).

In den nun einzeln vorzustellenden acht Beiträgen wird also überall mit konventionellen Vorstellungen von ‚Übersetzung‘ gearbeitet, auch wenn die konkrete Übersetzungstätigkeit oder deren materielle Produkte (also – in der Regel gedruckte – Übersetzungen) nicht immer den alleinigen Fokus bilden. Für alle Aufsätze gilt, dass sie gut recherchiert, unter dem Gesichtspunkt des Themas zweifellos relevant und ohne terminologische Extravaganzen formuliert sind, so dass sie einen breiteren Leserkreis erreichen können.

Die erste Abteilung heißt Traduction et identité culturelle: l’aspect linguistique und umfasst zwei Artikel. Deborah Viëtor-Engländer, Vier Personen suchen eine Sprache. Der sprachlich-kulturelle Umbruch von Frankreich nach England für Alfred Kerr und seine Familie (S. 23-43), beschreibt die Akklimatisierungsversuche der vierköpfigen Familie Kerr. Der frankophile Kritiker Alfred Kerr bekam in Frankreich nicht genug Aufträge, um die Familie zu ernähren, England schien eine bessere Option, doch fand er in dem Land, dessen Sprache er kaum beherrschte, keinen Anschluss: „England machte ihn stumm und verstärkte seine Hilflosigkeit“ (S. 35), wenngleich er weiterhin Texte schrieb; allerdings: „Kerr hatte keine Adressaten“ (S. 40). Es wird aber auch den anderen Familienmitgliedern viel Platz eingeräumt: Kerrs Frau Julia ist zwar im Englischen sehr gewandt, findet im Exil jedoch keine adäquate Anstellung, was sie psychisch sehr belastet. Die Kinder Michael und Judith (bekannt als Verfasserin des Kinderbuchs When Hitler Stole Pink Rabbit) entwickeln in den Exilländern eine solide Dreisprachigkeit.

Einen anders gelagerten Fall behandelt Marianne Kröger, Carl Einstein und Frankreich. Über-setzung als Schlüsselbegriff eines künstlerischen Selbstverständnisses (S. 45-65), denn der Schriftsteller und Kunstkritiker, der den Europäern afrikanische Kunst näherbringt, tauscht das nicht nur antisemitische, sondern ihm generell muffig erscheinende Deutschland schon 1928 gegen die Wahlheimat Paris ein, d.h. er „gehört zu den Vertretern des Protoexils“ (S. 47). In Frankreich ist er in den Zwanzigerjahren eine Autorität, hält an der Sorbonne eine Vorlesung über Ästhetik, er schreibt auf Deutsch und Französisch (wenn auch nicht ganz druckreif), seine Werke erscheinen übersetzt in den USA; auch er selber betätigt sich gelegentlich als Übersetzer aus dem Französischen ins Deutsche. Die Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanzigerjahre, das 1933 über ihn verhängte Publikationsverbot und die in Frankreich ausbleibenden Aufträge bringen ihn in eine so prekäre ökonomische Lage, dass er sich zusammen mit seiner Frau im Spanischen Bürgerkrieg engagiert, bevor er 1940 in Pau seinem Leben freiwillig ein Ende setzt.

Der zweite Block steht unter dem Motto Traduction et (re-)localisation: l’aspect textuel. Im ersten der drei Beiträge unternehmen Hélène Roussel und Klaus Schulte einen Übersetzungsvergleich: Exil, procédé textuel et stratégie de traduction. Der Ausflug der toten Mädchen d’Anna Seghers au prisme de différentes traductions (S. 69-101) kontrastiert eine ältere französische Übersetzung der Erzählung mit Roussels eigener Version unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung des Texts im mexikanischen Exil.

Sigurd Paul Scheichl widmet seinen Beitrag den Memoiren einer bis zu ihrer Flucht nach Frankreich im Jahr 1938 prominenten Persönlichkeit des Wiener Gesellschaftslebens: Eine Autobiographie mit zwei Funktionen. Bertha Zuckerkandls Lebensgeschichte – für Franzosen und für Emigranten (S. 103-122). Die Adressatendifferenzierung ist natürlich hauptsächlich durch die Übersetzung selbst, aber auch durch (quantitativ nicht besonders erhebliche) inhaltliche Unterschiede bedingt. Der österreichische Patriotismus soll die emigrierten Landsleute in ihrem Glauben an ihre Heimat bestärken, die Franzosen sollen vor allem erfahren, dass Österreich ein Land mit fest verankerter Frankophilie ist (ein Bild, das, wie Patrice Arnaud im letzten Aufsatz des Bandes zeigt, zumindest auf die Gesellschaftsschicht, der Bertha Zuckerkandl entstammt, durchaus zutrifft).

Frédéric Teinturier formuliert seine These ebenfalls bereits im Titel: Lion Feuchtwanger et le français / les Français: une relation ambiguë, révélatrice d’une conception contradictoire de la langue et de la traduction (S. 123-148). Die Beweisführung, dass der erfolgsverwöhnte Schriftsteller das bescheidene Interesse der Franzosen an seinem Werk nur schwer verwinden kann und der „Ästhet“ Feuchtwanger die Realitäten seines Gastlandes in den 1940er Jahren als abstoßend empfindet, ist zwar etwas langatmig und repetitiv, aber vor allem dank der Interpretation von Textstellen aus der Korrespondenz und dem Buch Der Teufel in Frankreich (natürlich ein Gegenentwurf zu Sieburgs Bestseller) gut nachvollziehbar.

Teil drei ist überschrieben mit Traduction et R/résistance: politiques du „traduire“ und wird eröffnet mit Isabelle Kalinowskis Miniatur Le petit cahier de René Char. Un usage de la traduction en temps de guerre (S. 151-167). Der Dichter widersetzt sich der Devise, dass Franzosen nur deutsche Literatur lesen dürften, die im Ursprungsland geächtet ist. Mit der Hand schreibt er 1939 Übersetzungen von Versen Hölderlins in ein kleines Notizheft, bevor er als Soldat zur Verteidigung seines Vaterlandes aufbricht.

Wie soll man sich als französischer Intellektueller, der auf deutsche Literatur bzw. Kultur spezialisiert ist, gegenüber deutscher Literatur verhalten, wenn die Staaten politisch auf Distanz gehen? Sylvie Aprile, Traduit-on pour des idées? Les traducteurs germanistes français des années 1930 (S. 169-188), nähert sich der Frage mittels einer Typologie der Übersetzer: da gibt es die politisch engagierten und oft anonym bleibenden Übersetzer; die Stargermanisten (wie Maurice Rémon oder Vater und Sohn Bertaux), die sich ihre Texte selber wählen; und den Nachwuchs, der sich auf den Bereich älterer Literatur verwiesen sieht.

Mit einer ganz anderen Personengruppe und ihrem Sprachverhalten beschäftigt sich Patrice Arnaud: Les requis pour le travail obligatoire et la langue allemande: entre mutisme, utilisation et réappropriation (S. 189-223). Unter Verwendung reichen Archivmaterials und zahlreicher autobiographischer Dokumente zeigt der Verfasser, wie unterschiedlich sich die Kommunikationskonstellationen gestalten konnten. Die anfänglich abwehrende Haltung des Großteils der etwa 600 000 französischen Zwangsarbeiter im Dritten Reich wich vielfach der Motivation, das Deutsche so gut zu lernen, dass man nicht auf die Dienste von – der Illoyalität verdächtigten – Dolmetschern angewiesen war, sondern selber für seine Bedürfnisse eintreten und auch an den spärlichen Freizeitvergnügungen wie Kinovorstellungen teilhaben konnte. Wer den Status eines Studenten hatte, dem standen – etwa laut einer Reihe von Zeugnissen aus Wien – noch ganz andere Möglichkeiten offen. Man traf sich mit den (überwiegend weiblichen) Studierenden im Kaffeehaus und bei Privattanzabenden. „L’ambiguïté de ces rapports est double, puisqu’elle témoigne d’un accommodement des Français à la société allemande et d’une forme de résistance passive de la haute société viennoise à l’idéologie nationale-socialiste. En effet, inviter des étudiants français dans le cercle familial constitue bien une forme de provocation à l’égard du régime“ (S. 199).

Die Mehrheit der Beiträge illustriert erwartungsgemäß, dass vielen Menschen, insbesondere Kulturschaffenden, durch die politische Barbarei des Dritten Reichs die Lebensgrundlage entzogen wurde. In dem Band wird aber auch von Fällen berichtet, die zeigen, dass der verordneten Feindschaft mit subversiver Solidarität begegnet wurde. Die Vielfalt der Blickpunkte ist denn auch Verdienst und Stärke des Bandes.

9 décembre 2014
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