29(2) - 2017

Stolze, Radegundis (2016). Übersetzungstheorien. Tübingen: Narr Francke Attempo (= narr starter)

Book review by Klaus Kaindl

Der vorliegende Band erschien in der Reihe narr-Starter und richtet sich an StudienanfängerInnen. Diese Reihe hat keinen disziplinären Fokus, sondern publiziert zu einem breiten Themenfeld: Neben dem aktuellsten Band zu Übersetzungstheorien liegen beim Verfassen dieser Rezension noch Kontrastive Linguistik, Mehrsprachigkeitsforschung, Wissenschaftliches Arbeiten für Linguisten und Sprachmittlung vor. Gemeinsam ist allen fünf Bänden somit lediglich der Untertitel: „7 wichtige Punkte für einen erfolgreichen Start ins Thema“. Warum es genau sieben sind, kann nur gemutmaßt werden: Vielleicht soll die einstellige Primzahl Übersichtlichkeit in der verwirrenden Vielzahl von Ansätzen und Theorien vermitteln und so den veränderten Lesegewohnheiten von jungen Menschen Rechnung tragen. Statt größere Textmengen durchackern zu müssen, sollen wissenschaftliche Inhalte für die mit digitalen Medien groß gewordenen StudienanfängerInnen in leicht verdauliche Häppchen portioniert werden, wohl auch um der immer wieder beklagten bzw. kolportierten verringerten Aufmerksamkeitsspanne der „digital natives“ entgegenzukommen.

Mit dem vorliegenden Band zu Übersetzungstheorien ist dieser Trend nun auch in der Übersetzungswissenschaft angekommen. Der Band bzw. die Reihe wirft ein Schlaglicht auf die Entwicklung der Vorstellung von der Bildungsaufgabe der Universität im Allgemeinen und translationswissenschaftlicher universitärer Einrichtungen im Besonderen. Daher sollen neben einer Rezension des Buches an sich auch grundsätzliche Fragen zu einer solchen Aufbereitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen angestellt werden. Zunächst jedoch zum Band selbst.

Das Buch gliedert sich nach einer Einleitung in 7 Kapitel sowie ein Textbeispiel, in dem 3 Übersetzungen kritisch analysiert werden. Danach folgen ein Glossar, Aufgaben in Form von Wissensfragen für die Studierenden zu den jeweiligen Kapiteln, ein Literaturverzeichnis und ein kurzes Sachregister.

Bereits in der Einleitung wird auf das ebenfalls von Stolze verfasst Werk Übersetzungstheorien – Eine Einführung (2011) verwiesen, das eindeutig als Grundlage für den vorliegenden Starter-Band dient. Die kontinuierlichen Verweise im weiteren Verlauf auf dieses Werk legen die Vermutung nahe, dass ein wesentliches Ziel dieser eingedampften Version der Erwerb der Langfassung ist. Ein anderes Ziel des Bandes ist hingegen eher diffus: Während in der Einleitung angegeben wird, dass es darum geht, „einen Einstieg in das komplexe Thema zu erleichtern“, „ein paar Grundlinien der Problematik aufzuzeigen“ und „ein Vorverständnis“ zu schaffen, indem „ohne kritische Diskussion“ die wichtigsten Theorien vorgestellt werden (S. 10), wird im Schlusswort als Ziel angegeben, „ein kritisches Problembewusstsein im Bereich der Übersetzungstheorien“ zu schaffen (S. 69). Wie dies für eine Zielgruppe ohne Vorkenntnisse gelingen soll, indem man lediglich Informationsbausteine ohne argumentativen Unterbau liefert, ist allerdings nicht ganz klar.

Kapitel 1 beschäftigt sich mit Ansätzen, die das Sprachsystem in den Blick nehmen bzw. sich daraus entwickelt haben, Kapitel 2 wendet sich textlinguistischen und pragmatischen Fragestellungen zu, Kapitel 3 ist der literarischen Übersetzung und hier vor allem den deskriptiven Ansätzen der sog. „Manipulation School“ und der Polysystemtheorie gewidmet. Während bis hierin eine thematisch konzise Darstellung erfolgt, beginnt sich in Kapitel 4 die vorgegebene Beschränkung auf 7 Kapitel störend auszuwirken. Unter der Überschrift „Der Blick auf die Disziplin“ findet sich eine heterogene Ansammlung von Ansätzen. Diese reichen von tatsächlich wissenschaftstheoretischen Positionierungen der Übersetzungswissenschaft als Interdisziplin über die etwas irreführend als „Feldtheorie“ bezeichnete disziplinäre Landkarte von James Holmes bis hin zu methodischen Zugängen, wie Korpusanalysen und deskriptiven Ansätzen. Des Weiteren wird auch die Prozessforschung, wie sie vor allem in psycholinguistischen Studien betrieben wird, in diesem Kapitel untergebracht. Funktionale Theorien – zu der auch der interpretationstheoretische, semiotisch motivierte Ansatz von Holger Siever gezählt wird – werden in Kapitel 5 behandelt. Ansätze, die sich mit Macht, Ethik, Hybridität und kultureller Übersetzung beschäftigen, werden unter „Übersetzen und Machtverhältnisse“ in Kapitel 6 subsumiert, wobei auch hier aufgrund der Kürze (gut 5 Seiten), so manches durcheinander zu geraten scheint. Warum die Dekonstruktion in Kapitel 1 in einem Absatz behandelt wird und nicht in Kapitel 6, wo sie eigentlich die Grundlage darstellt, ist nicht klar. Das letzte Theoriekapitel bildet die Übersetzungshermeneutik, die den Text als Übersetzungsgrundlage als übersummatives, multiperspektivisches und individuelles Ganzes betrachtet und – wie dies bereits Stolze (1982) formuliert hat – Stimmigkeit als Übersetzungsziel vorgibt.

Zwar stimmt es, dass bei der Vorstellung der Ansätze eine kritische Diskussion weitgehend vermieden wird, allerdings erfolgt eine Bewertung der Theorien indirekt bei der Diskussion der Übersetzung eines Zeitungsartikels (dass damit eine jahrzehntelange und in der Übersetzungsdidaktik als weitgehend praxisfern eingestufte Textsorte ausgewählt wurde, ist schade). Neben einer Laienübersetzung wird auch eine funktionale und eine hermeneutische Übersetzung kritisch untersucht. Während bei der Laienübersetzung eine Reihe von Fehlern identifiziert werden, wird bei der funktionalen Übersetzung kritisiert, dass sie aufgrund der Fokussierung auf den Wissenshorizont der Rezipientinnen den Text „gelegentlich banalisierend und überdeutlich“ (S. 65) aufbläht. Hier wird der funktionale Ansatz allerdings missverständlich dargestellt. Laut Stolze geht es diesem darum „Fremdkulturelles zu erläutern“ (S. 63). In dieser pauschalisierenden Form stimmt dies jedoch nicht. Je nach Funktion des Textes kann auch die Beibehaltung der Fremdheit ein Skopos sein, was – siehe Nords Übersetzungstypen (1988) – andere Übersetzungsstrategien nötig macht. Eine funktionale Übersetzung bedeutet eben nicht, „banalisierend und überdeutlich“ zu übersetzen, sondern je nach Vorwissen, Erwartungen und Verstehenshorizont der RezipientInnen adäquat zu formulieren. Wenig überraschend ist es der hermeneutische Ansatz, also jener, für den Radegundis Stolze in der Übersetzungswissenschaft steht, der keinerlei Kritikpunkte aufwirft. Er ermöglicht es (anscheinend im Gegensatz zu einer funktionalen Herangehensweise) „die Übersetzung selbst aufgrund gegebenen Vorwissens zu interpretieren, ohne dass ein bestimmtes Verständnis erzwungen“ wird (S. 67). Natürlich hat jede/r Übersetzungswissenschaftler/in eigene theoretische Zugänge, die auch in einem Einführungsband durchschimmern, allerdings sollte die eigene Position vielleicht doch transparent(er) gemacht werden, um so gerade auch StudienanfängerInnen die Entwicklung eines unvoreingenommenen kritischen Problembewusstseins zu ermöglichen.

Ein Glossar schließt den Band ab, als Quellen für die Begriffsklärungen werden neben wissenschaftlichen Werken auch Duden und Wikipedia genannt. Einige der angeführten Autoren (z.B. Gadamer, Jäger, Neubert) scheinen im anschließenden Literaturverzeichnis überhaupt nicht auf. Auch die Zuordnung mancher Begriffe zu bestimmten AutorInnen erscheint nicht immer ganz schlüssig: So wird z.B. Translationssoziologie Prunč und nicht Wolf zugeordnet, Übersetzungskultur Krystofiak, während der weitverbreitete, von Prunč geprägte Begriff der Translationskultur gar nicht aufscheint, Kreativität wird Siever und nicht Kussmaul zugeeignet.

Formal scheint mir bisweilen die pauschalisierende Art der Zitierweise problematisch, da Anfänger den Eindruck erhalten könnten, es reicht einfach, einen Namen ohne Jahr und Seite anzugeben, um auf eine konkrete Aussage bzw. einen Fachausdruck zu verweisen. Auch Wikipedia-Verweise als Quellenangaben für wissenschaftliche Ausdrücke scheinen gerade für Anfänger nicht unproblematisch, denn dies konterkariert in gewisser Weise das Bemühen zahlreicher Vorlesungen und Seminare zum wissenschaftlichen Arbeiten, in denen das Zitieren von Wikipedia als wissenschaftlicher Quelle äußerst kritisch gesehen wird.

Natürlich muss zugestanden werden, dass in einer solchen Kürze kein vollständiger Überblick möglich ist, jede/r Autor/in wird bei der Auswahl von Theorien und Ansätzen eigene Schwerpunkte treffen. Dass dabei manches zu kurz kommen muss, unerwähnt bleibt und Gewichtungen nicht immer schlüssig erscheinen, kann zu einem Großteil nicht der Autorin, sondern dem Reihenformat angelastet werden. Womit wir bei einigen ganz grundsätzlichen Fragen wären, die eine Reihe wie narr-Starter für die wissenschaftliche bzw. akademische (Aus-)Bildung aufwerfen.

Die Befähigung zur kritischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Werken verlangte von Studierenden lange Zeit (zu?) viel: Um sich mit den gedanklichen Konstrukten von WissenschaftlerInnen auseinanderzusetzen, um in ihre Ideenwelt einzutauchen, diese zu erkunden, sich vielleicht auch darin zu verlieren und zu verirren, musste man sich auf die jeweiligen Werke einlassen. Diese ersten Schritte waren häufig mühevoll und erforderten vor allem eines: Zeit. Bisweilen war man überfordert von so viel Neuem, einer Terminologie, die fremd und unverständlich war und theoretischen Konstruktionen, die in ihrer Komplexität häufig undurchschaubar wirkten. Um diesen Einstieg zu erleichtern, entstanden in den letzten Jahrzehnten vermehrt Handbücher, Einführungswerke und Fachenzyklopädien, die diese Theorien erklärten und darstellten. Dies führte dazu, dass man nicht mehr Originalwerke las, sondern deren (mehr oder wenig persönlich gefärbte) Darstellung bzw. Interpretation. In Seminar-, Master- und Doktorarbeiten macht sich dies in der Zitierweise bemerkbar: Häufig werden nun nicht mehr die SchöpferInnen von Theorien zitiert, sondern deren Darstellung aus Handbüchern. Damit gerät gewissermaßen ein Grundgesetz des Gutenberg-Zeitalters ins Wanken: Die zentrale wissenschaftliche Maxime, auf den/die Urheber/in einer Theorie zu verweisen gilt nicht mehr, stattdessen wird auf jemanden verwiesen, der diese in vereinfachter Form darstellt.

Nun geht man noch einen Schritt weiter, indem die verkürzte Darstellung einer zuvor publizierten erklärenden Zusammenfassung von Theorien als „Wissen“ präsentiert wird. Dies kann auch als Symptom des derzeitigen Ausbildungstrends und dafür, was heute unter Wissenschaftsvermittlung verstanden wird, gesehen werden. Nicht wie ein theoretisches Gebäude errichtet wird, wie Thesen entwickelt, Argumente dargelegt werden, steht im Vordergrund, sondern die effiziente und vereinfachte Präsentation von Theoriebites. Ob Studierenden so der Einstieg in die Welt der Wissenschaft erleichtert wird und damit, wie Stolze es auf der Website des Narr-Verlags formuliert, „leichter, effektiver, mit mehr Spaß“ (URL: Narr-Starter) studiert werden kann, oder ob Inhalte dadurch nicht auf eine Art und Weise vereinfacht werden, die letztlich nicht zur kritischen Auseinandersetzung stimulieren, sondern nur Wissen simulieren, ist eine Frage, mit der sich Universitäten wohl in Zukunft verstärkt auseinandersetzen müssen. In dieser Hinsicht regt der vorliegende Band und die Reihe, in der er erschien, zweifelsohne zum kritischen Nachdenken an.

Bibliographie
Narr-Starter. Abgerufen am 15. Juni 2017, http://narr-studienbuecher.de/index.php/narr-starter
Nord, C. (1988). Textanalyse und Übersetzen. Theoretische Grundlagen, Methode und didaktische Anwendung einer übersetzungsrelevanten Textanalyse. Heidelberg: Groos.
Stolze, R. (1982). Grundlagen der Textübersetzung. Heidelberg: Groos.
Stolze, R. (2011). Übersetzungstheorien. Eine Einführung (6. Aufl.). Tübingen: Narr.

DOI 10.17462/para.2017.02.06

October 26, 2017
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