29(2) - 2017

Witte, Heidrun (2017). Blickwechsel. Interkulturelle Wahrnehmung im translatorischen Handeln. Berlin: Frank & Timme

Compte rendu par Kjetil Berg Henjum

Das Buch richtet sich primär an Studierende und Lehrende im Bereich der Translation bzw. Translatologie (S. 17) und setzt sich zum Ziel zu diskutieren, „inwieweit Translation interkulturelle Wahrnehmung und damit interkulturelles Verhalten beeinflussen kann/soll, und inwieweit sich daraus professionelle Verantwortungen für translatorisches Handeln ableiten lassen“ (S. 16).

Im Schlusswort wird festgestellt: „Dieses Buch möchte für die Relevanz interkultureller Aspekte im translatorischen Handeln sensibilisieren: […].“ (S. 235). Das tut es auch, aber ich habe meine Einwände im Hinblick darauf, wie es das tut.

Das Buch umfasst 263 Seiten und besteht aus einer Einleitung (0), sechs Kapiteln (1–6), einem Schlusswort (7), einer Bibliografie (8) und einem Sachregister (9). Im ersten Kapitel geht es um „Translation und interkulturelle Kommunikation“. Das zweite Kapitel „Translatorisches Handeln“ behandelt den translatorischen Handlungsrahmen, die translatorische Kulturkompetenz sowie Selbst- und Fremdbilder von TranslatorInnen. Im Kapitel 3 „Mentale Visualisierungen im translatorischen Handeln“ steht das Scenes-and-frames-Modell im Mittelpunkt des Interesses. Im vierten Kapitel „Translation zwischen Tradition und Konvention“ stehen die Textsortenkonventionen im Vordergrund. Das fünfte Kapitel widmet sich der Didaktisierung und diskutiert viele Beispiele. Im sechsten Kapitel geht es um die „Evaluation von Translaten“, und zentral ist dabei Hönigs metaphorische Unterscheidung zwischen Therapie und Diagnose, auf die später eingegangen wird.

Das Buch ist sorgfältig gestaltet, und es gibt nur wenige Flüchtigkeits- oder Druckfehler. Etwas störend sind lediglich die kaum Platz sparenden, unüblichen und im Buch auch selten vorkommenden Abkürzungen i. Sp. (für im Spanischen) und i. Dt. (für im Deutschen), m. Verw. a. (für mit Verweis auf), og. (für obengenannt) und Hvhbng. (für Hervorhebung).

Das Buch enthält viele gute Beispiele für Fälle, die problematisch sein können bei der Übersetzung aus dem Spanischen ins Deutsche. Das diskutierte Material sind studentische wie auch publizierte Übersetzungen.

An dieser Stelle sei ein erster Einwand angebracht: Das Aufzeigen von Fehlern und auch das Anführen von Eigenübersetzungen als „bessere Lösung“ sind unvereinbar mit meiner Auffassung einer deskriptiven Übersetzungswissenschaft. Vielleicht geht es im Rahmen der funktionalen Translationstheorie grundsätzlich um etwas anderes, spielt doch die Didaktik hier eine große Rolle, aber auch die Didaktik müsste ohne Fehlerfokus und Besserwisserei im Hinblick auf vorliegende Übersetzungen auskommen können.

Insbesondere wird diese Perspektive in Abschnitt 3.3 deutlich, in dem es um das Geglücktsein (oder nicht) von Übersetzungslösungen geht. Diesem Abschnitt und auch anderen Abschnitten haftet m.E. ein besserwisserischer Fehlerfokus an, ein Fokus auf das nicht Zureichende; es werden Fehler angeführt, die sodann durch bessere Lösungen ersetzt werden. Überhaupt kommen zu viele negative Charakterisierungen vor. Es muss natürlich im Rahmen der Übersetzerausbildung und bei der Bewertung von Übersetzungen erlaubt sein zu sagen, dass eine Lösung gut/richtig, eine andere schlecht/falsch ist (= Präskriptivität), aber wenn es darum geht, ein Rahmenwerk für die Beschreibung von Übersetzungsproblemen zu schaffen und Übersetzungslösungen zu beschreiben (= Deskriptivität), sollte man m. E. ohne die Abwertung von Übersetzungen auskommen (etwa „unzureichend“ [S. 101, 117], „idiomatisch wenig zufriedenstellend[…]“ [S. 141], „Defekt“ [S. 141, 143], „umständlich“ [S. 192], „falsch“ [S. 192]).

In der Erweiterung dieser Problematik möchte ich eine Beispielsdiskussion aufgreifen: In einem Roman von Luis Sepúlveda kommt die Nominalphrase una tremenda bronca vor, auf die anschließend durch die Nominalphrase aquel odio anaphorisch Bezug genommen wird (S. 157). Diese beiden Phrasen sind in der publizierten deutschen Übersetzung mit furchtbarer Groll und dieser Hass übersetzt (S. 157). Witte führt hierzu einen Übersetzungsvorschlag aus dem „fortgeschrittenen Übersetzungsunterricht“ an, in dem die beiden Phrasen mit gewaltiger Hass und dieser Hass übersetzt sind (S. 158). Aus der Analyse (S. 158) der Autorin geht hervor, dass es sich bei den beiden Wörtern im chilenischen Spanisch lediglich um eine „stilistische Variation“ (S. 158) handelt: „Die stilistische Variation des Spanischen (bronca :: aquel odio) wurde durch eine Wiederholung ersetzt. Sicher nicht ideal, jedoch in jedem Fall korrekter als Groll :: diesen Hass, das i. Dt. nicht zulässig [!, meine Hervorhebung, KBH] ist, da die Bedeutung der beiden lexikalischen Elemente nicht austauschbar ist (was aber durch diesen suggeriert wird).“ Wie man das im Zusammenhang der belletristischen Übersetzung behaupten kann, ist mir unerklärlich, zumal auf das Phänomen der partiellen Rekurrenz in einer Klammer auch hingewiesen wird. Die spanischen Wörterbücher, die ich bemüht habe, legen nicht nahe, dass es sich bei bronca und odio lediglich um stilistische Variation handelt.

Dieses Problem, und auch das Problem der Eigenübersetzung als Verbesserungsvorschlag, wird auch auf S. 198 deutlich, diesmal an einem von Christiane Nord übernommenen Beispiel. Dabei geht es darum, dass im spanischen Original die Verbform miraba (von mirar) durch die NP aquella mirada aufgenommen wird. In der deutschen Übersetzung wird die Verbform betrachtete durch die NP dieser Blick wiederaufgenommen, was von der Autorin (oder Nord) als „nicht normgerecht“ bezeichnet wird, und zwar mit folgender Begründung: „[…] die anaphorische Konstruktion dieser + Substantiv erfordert eine vorausgehende Nennung eines semantisch synonyme Merkmale evozierenden Bezugswortes.“ Insbesondere im Blick auf die Belletristik dürfte der Sprung von betrachten zu dieser Blick im Rahmen des „Normgerechten“ sein, zumal auch Betrachtung nicht in Frage kommt. Obendrein wird Nords reichlich langweiliger und prosaischer Vorschlag zur „Verbesserung“ angeführt (S. 198) …

In Kapitel 6 spielt im Zusammenhang der Fehlerbewertung in der Translationsdidaktik das Begriffspaar Therapie vs. Diagnose von Hönig eine wichtige Rolle. Diese Therapie- und Diagnosemetaphorik sollte man m.E. aufgeben, da sie nicht einleuchtet (kontraintuitiv ist) und somit nicht greift: Nach Witte fragt man bei der therapeutischen Fehlerbeurteilung nach den Ursachen fehlerhafter Übersetzungen, während man im diagnostischen Ansatz primär mögliche „Konsequenzen von Übersetzungslösungen für die angestrebte interkulturelle Kommunikation“ in den Blick nimmt. Nicht gelungen ist dies m.E., weil es in der „Alltagssprache“ bei der Therapie um Maßnahmen zur Genesung geht, nachdem durch eine Diagnose eine Krankheit oder Ähnliches festgestellt worden ist.

Störend an dem Buch finde ich den Angriff auf Holger Siever, der auf S. 120 und den folgenden Seiten mild anfängt und auf S. 209 richtig in Fahrt kommt (mit einem banalen Beispiel für die falsche Verwendung von indem als Übersetzung des spanischen Gerundiums) und sich über sieben Seiten erstreckt. Die dort diskutierten Punkte ließen sich sehr wohl auch veranschaulichen, ohne den Umweg über Siever zu machen.

Dieser Einwand sollte im Zusammenhang gesehen werden mit folgender Überlegung: Die Perspektive ist problematisch. Damit ist Folgendes gemeint: Es handelt sich im Buch von Witte nicht darum, problematische AT-Elemente zu erläutern, sondern es werden „uns problematisch erscheinende Aspekte des ZT“ (S. 157) aufgezeigt. Für mich heißt dies – wie oben auch angeschnitten –, dass das Buch als übersetzungswissenschaftliches Buch problematisch ist: Es wird nicht systematisch auf Problemfelder eingegangen (mögliches Feld: das spanische Gerundium, zu dem die Autorin gerne greift, siehe auch etwa S. 221), sondern es werden Beispiele für „inadäquate“ Übersetzungen gegeben. Diese Übersetzungen werden dann „geglückt(er)en“ Eigenübersetzungen und „Hausübersetzungen“ oder gar Musterübersetzungen (S. 206 etwa eine „zielfunktionsgerechte professionelle Translation“) gegenübergestellt. D.h. allgemein: Das Buch liefert kein Rahmenwerk, sondern vor allem Fehleranalysen und das Anführen besserer Lösungen. Es gibt hier m.E. aber nichts, was nicht adäquat (!) im Rahmen etwa eines (bei Witte wie auch von vielen anderen missverstandenen) Äquivalenzbegriffs zu beschreiben wäre. Bei den kulturspezifischen/interkulturellen Übersetzungsproblemen (Kulturspezifika im weiten Sinne als Übersetzungsproblem) geht es schließlich um die pragmatische Äquivalenz. Dass die genaue Beschreibung der mit der pragmatischen Äquivalenz verbundenen Herausforderungen häufig vernachlässigt wird, ist eine andere Frage. Das Buch scheint somit leider die missverstandene Auffassung zu verstärken, dass Äquivalenz eine rigide Frage der Normativität im Sinne von Präskriptivität ist.

Abschließend möchte ich ein paar Beispiele für das geben, was ich als etwas engstirnig-konventionelle Übersetzungsverbesserungen etikettieren möchte:

In der Beispielsdiskussion in Abschnitt 6.2 wird einfach festgehalten, dass die Übersetzung in der gebissenen Hand „wenig idiomatisch“ (S. 225) scheint. Was hier mit wenig idiomatisch gemeint sein kann, ist nicht einfach zu verstehen. Soll das etwa als „nicht gutes Deutsch“ verstanden werden oder eher als „selten vorkommend“? Als bessere Lösung wird das sehr konventionelle in der verletzten Hand vorgeschlagen. Kritisiert wird auch die Übersetzung, bei der eine „Giftwolke sich über seine Augen legte“, und zwar mit folgender Begründung: „Die Formulierung klingt, als komme die ‚Giftwolke‘ von außen“ (S. 225). Und das in einem Satz, wo von einer gebissenen/verletzten Hand und einer Schlange, die in mehrere Stücke gehackt wird, die Rede ist!

Diese Rezension wurde „auf der Oberfläche“ negativer, als ich sie mir bei der Lektüre des Buches vorgestellt hatte. Nochmals sei deshalb abschließend festgehalten, dass das Buch anhand von vielen Beispielen wirklich für „die Relevanz interkultureller Aspekte im translatorischen Handeln“ (S. 235) sensibilisiert. Für mich tut es das allerdings auf eine problematische Art und Weise.

DOI 10.17462/para.2017.02.09

26 octobre 2017
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